24.06.2020

Nunatak-Principal Juliane Veits über agile Marketing- und Kommunikationsbereiche, Beharrungskräfte in Unternehmen und die Vorteile von engerer Zusammenarbeit

Die unabsichtliche Veröffentlichung eines verstörenden Social-Media-Videos durch den Automobilkonzern VW hat Unternehmen aller Branchen aufgeschreckt. Besonders in den Abteilungen für Marketing und Kommunikation läuten die Alarmglocken. Alle fragen sich: Kann so etwas auch bei uns passieren?

Juliane Veits berät bei Nunatak in führender Funktion zahlreiche Kunden zu agilem Arbeiten und digitalen Marketing- und Kommunikationsstrategien. In diesem Interview analysiert sie die Fehlerquellen und Gefahrenpotenziale veralteter Organisationsmodelle im Marketing- bzw. Kommunikationsbereich und gibt Tipps zur Vermeidung solcher Fehltritte.

Was war Dein erster Gedanke, als Du von dem Vorfall gehört hast?

Der Vorfall hat mich erst einmal etwas erschrocken. Ich ging natürlich davon aus, dass der Effekt dieses Videos keinesfalls von VW beabsichtigt war. Trotzdem erwarten Kunden natürlich zu Recht, dass solch problematische Inhalte vorher geprüft und nicht veröffentlicht werden.

Aus Deiner Erfahrung in der Beratung von Konzernen und Mittelständlern – was ist da wohl schiefgelaufen? Und was können andere aus diesen Fehlern lernen?

Die Vermutung liegt nahe, dass es Schwierigkeiten in den Freigabeprozessen und an Schnittstellen gibt. Dies ist ja keine Seltenheit, gerade in Großkonzernen. Um die Hintergründe zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal die komplett veränderte Kommunikationswelt der Gegenwart anschauen. Heute gibt es so viele verschiedene Kanäle und Formate, vor allem durch Social Media. Die Kunden erwarten von den Unternehmen kontinuierliche Kommunikation. Der Bedarf nach Content steigt immer mehr und erhöht den Zeitdruck. Und kundenzentriert arbeitende Unternehmen versuchen natürlich, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Ausgangslage stellt Marketing- und Kommunikationsbereiche vor enorme Herausforderungen, welche aus unserer Erfahrung nur durch agile Strukturen, mit gleichzeitig klaren Zuständigkeiten und Abstimmungsprozessen bewältigt werden können. 

Hört sich nach mangelnder Kontrolle und unklaren Verantwortlichkeiten als Ursache  an. Ist das vielleicht sogar das Ergebnis der so gepriesenen agilen Arbeitsweise mit ihrer Idee der Abschaffung von klaren Hierarchien?

Im Gegenteil! Agile Organisationsmodelle, in denen kleine Gruppen auf Augenhöhe arbeiten, sind sogar eine hervorragende Sicherung gegen Fehlleistungen einzelner Entscheider. Und ich bin froh, dass in vielen Unternehmen inzwischen erkannt wird, welche Vorteile das agile Arbeiten hat – insbesondere an der Schnittstelle zwischen Marketing und Unternehmenskommunikation. Wir bei Nunatak haben solche agilen Organisationsmodelle bei vielen Kunden erfolgreich eingeführt. So haben wir beispielsweise bei einem großen deutschen Lebensmitteleinzelhändler ein agiles MarCom-Organisationsmodell entwickelt und international implementiert, dabei wurden auch die Bereiche Marketing und Kommunikation zusammengelegt. Diese agile Organisation hat in der Corona-Krise dafür gesorgt, dass schneller, verlässlicher und einheitlicher kommuniziert werden konnte. Ohne diese neuen Strukturen wäre das deutlich schwieriger gewesen.

Du berätst ja viele Unternehmen bei der Umstellung. Was für Strukturen findest Du dort vor?

Da gibt es oft noch sehr große Schwierigkeiten: Ineffektive Prozesse, Überschneidungen in der Zuständigkeit, enormer Zeitdruck. Sehr oft begegnen wir nach wie vor zwei wie Silos getrennten Abteilungen für Kommunikation auf der einen und Marketing auf der anderen Seite. Die dadurch entstehenden Gefahren und Reibungsverluste sind eigentlich schon lange bekannt. Und manchmal findet man auch bereits erste, oft unzureichende Versuche, diese Probleme durch die Einführung agiler Prozesse zu beseitigen. Doch das ist nicht so einfach, und vereinzelte Maßnahmen reichen dabei nicht aus. Ich kann nur nachdrücklich davor warnen, die Einführung eines agilen Organisationsmodells stückchenweise im Selbstversuch anzugehen. Das Ergebnis ist dann oft, dass es nicht funktioniert und der agile Prozess intern verbrannt ist. Man muss Organisationsmodelle ganzheitlich angehen.

Gibt es da eine Checkliste?

Ganz am Anfang eines solchen Prozesse stehen die Definition der Ziele, die erreicht werden sollen, und die Einigung auf eine entsprechende Kultur, ein gemeinsames Mindset. Der Kernbegriff ist hier: mehr Freiheit – ohne aber die Qualitätskontrolle und die essentiellen Freigabeprozesse zu vernachlässigen. Zugleich muss über die Strukturen nachgedacht werden. Wie stellen wir uns am besten auf, um agiler arbeiten zu können? Parallel dazu, nehmen wir uns die einzelnen Prozesse und Tools vor, mit denen das umgesetzt werden kann. Und dann werden die einzelnen Rollen und Kompetenzen der Beteiligten angeschaut.

Solche Umbrüche bleiben meist nicht ohne Widerstand. Wie macht man Management und Mitarbeitern klar, dass sich grundsätzlich was ändern muss?

Das hängt maßgeblich davon ab, wie hierarchisch ein Unternehmen bislang aufgestellt ist. Da gibt es eingespielte, oft auch festgefahrene Prozesse. Veränderungen und mehr Freiheit verängstigen manche. Sie fühlen sich sicher in ihren alten Strukturen. Da wissen sie genau, was von ihnen erwartet wird. Unter Führungskräften ist die Erkenntnis, dass sich etwas ändern muss, dass agile Prozesse dem Unternehmen gut tun können, meist vorhanden – aber verursacht auch viel Verunsicherung.

Aber agiles Arbeiten ist doch auch mit Machtverlust verbunden?

Das stimmt. Die Führungsaufgaben verändern sich, für viele der Manager heißt das: weg von stark hierarchischer Führung hin zu mehr fachlicher Führung. Aber für viele Führungskräfte ist das auch eine Erleichterung. Sie können sich wieder voll auf die fachlichen Bereiche fokussieren, in denen ihre Kernexpertise liegt und werden von Verwaltungs- und Managementaufgaben entlastet. Ich weiß aus Unternehmen, die wir bei diesem Prozess begleitet haben, wie befreiend das für die Akteure sein kann.

Wie kriegt man diesen positiven Spin in der Stimmung der Belegschaft hin?

Wir raten Unternehmen dazu, die richtigen Personen zu identifizieren, die als Multiplikatoren den Veränderungsprozess intern vorantreiben. Wegbereiter, die die neuen Werte, Prozesse und Strukturen vorleben und ihre Kolleginnen und Kollegen überzeugen – natürlich mit unserer Unterstützung. Der wichtigste Erfolgsfaktor ist aber: Die oberste Hierarchieebene muss loslassen können. Freiheit ist enorm wichtig, damit sich die agile Arbeitskultur entwickeln kann. Aber man darf nicht verwechseln: Agil heißt nicht anarchisch. Wichtig ist eine Kombination aus Freiheit an der richtigen Stelle, aber trotzdem klaren Verantwortlichkeiten und Freigabeprozessen. Das scheint VW jetzt auch gemerkt zu haben und will eine neue Einheit für Social Media aufbauen, welche übergreifend agiert und für klare Prozesse und schnellere Reaktionen sorgen soll. Aus meiner Sicht eine richtige Maßnahme – vermutlich bedarf es aber insgesamt noch weit größerer Anpassungen am gesamten Organisationsmodell.

 

Header Image: iStock/Rawpixel

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